Im Dialog
Im Jahre 1990 begann die Gedenkstätte Buchenwald damit, Angaben über die Insassen des Speziallagers Buchenwald zusammenzutragen. Im Vordergrund stand zunächst das Auffinden von Zeitzeugen. Als hilfreich bei der Registrierung erwies sich ein Computer, der vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen gestiftet worden war. Allerdings stieß dieses Erfassungsverfahren sehr bald an Grenzen. Die Überlieferungen ehemaliger Lagerinsassen über Mitgefangene reduzierten sich in vielen Fällen auf Namen, teilweise nur auf Familiennamen, was insbesondere bei häufiger vorkommenden Namen spätere Zuordnungen nahezu unmöglich machte. Es blieb auch nicht aus, dass zahlreiche Namen fehlerhaft geschrieben waren.
Eine neue Qualität wurde im Jahre 1993 erreicht, als im Zuge der begrenzten Öffnung von Aktenbeständen in Russland der Gedenkstätte Buchenwald das sogenannte Lagerjournal (in mikroverfilmter Form) überlassen wurde. Das aufwendige Verfahren, in dem aus den zugänglichen Aktenüberlieferungen bis 1997 das Totenbuch entstanden ist, wurde bereits an anderer Stelle ausführlich beschrieben. Allerdings war es auch so in vielen Fällen nicht möglich, die korrekte Schreibung der Namen zu ermitteln.
Seit 1997 liegt das gedruckte Totenbuch in der ständigen Ausstellung aus. Wenn der Ausstellungsbesucher, der in dem Buch blättert, seinen Blick hebt, kann er einen Teil jener Stelen erkennen, die die Massengräber des Lagers markieren.
Mit der Ausstellung verband die Gedenkstätte Buchenwald das Ziel, möglichst alle Toten des Lagers namentlich zu benennen. Damit sollte wenigstens nachträglich die Absicht der Lagerbetreiber - aber auch der SED-Führung - durchkreuzt werden, die Opfer in der Anonymität verschwinden zu lassen. Die Besucher der Ausstellung, soweit sie aufgrund ihrer Kenntnisse dazu imstande waren, wurden zur Mitarbeit aufgefordert. Konkret ging es darum, fehlerhafte Eintragungen zu korrigieren, Angaben zu ergänzen und bislang nicht erfasste Personen namhaft zu machen. Dieses Ziel, der aktive Dialog mit Besuchern, konnte erreicht werden. Auf der Basis vieler Hinweise wurde das Totenbuch mehrfach überarbeitet. Die Gedenkstätte Buchenwald hat sich nunmehr entschlossen, das Buch im Internet veröffentlichen zu lassen. Mit dieser Entscheidung entspricht sie immer wieder geäußerten Wünschen von Angehörigen. An die größere Verbreitung des Totenbuches knüpft sich aber zugleich die Hoffnung, weitere Angaben über die Opfer zu bekommen. Die Arbeit wird fortgesetzt.
Entwickelt hat sich aber auch eine andere Form des Dialogs. In wachsendem Maße fragen insbesondere Angehörige der (Ur)-Enkelgeneration nach ihren (Ur)-Großvätern oder (Ur)-Großmüttern, auf deren Namen sie im Totenbuch stießen. Sie wollen wissen, welche Biographie hinter dem Namen steht.
Nicht ohne weiteres gibt der Name sie frei, schon gar nicht vollständig, aber die Fragen stehen im Raum. Das ist nicht immer willkommen, besonders in kleineren Ortschaften. Es sind nicht nur Fragen nach persönlicher Schuld oder Unschuld in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch Fragen nach denen, die der Besatzungsmacht Namen genannt haben: sei es aus persönlichen oder politischen Motiven, sei es in offener politischer Auseinandersetzung oder aus dem Dunkeln des Denunziantentums. Biographisches Interesse reduziert sich nicht auf die Toten des Lagers, klammert sie aber auch nicht aus.
Die Gedenkstätte Buchenwald vermag in vielen Fällen gewünschte Antworten nicht oder nur teilweise zu geben. Sie ermutigt Fragende aber, weiter zu suchen und unterstützt sie dabei. Wenn die Suche ernsthaft ist und sich nicht mit vorschnellen Antworten aus der vermeintlich sicheren Perspektive der Nachgeborenen zufrieden gibt, können aus dem massenhaften Sterben in diesem Lager, das sich jeder nachträglichen Sinngebung entzieht, Einsichten erwachsen, die manchem Toten verwehrt geblieben sind. Wie etwa in folgenden Worten, die 1996 aus Anlass des 50. Todestages des „geliebten armen Großvaters“ auf eine Kranzschleife geschrieben worden sind: „Er war Generalmajor und Opfer seiner soldatischen Obrigkeitstreue, die auch vor Hitler nicht haltgemacht hat. Ich wünschte, er hätte sich verweigert. Er möge in Frieden ruhen.“