Desinformation in der DDR 1950-1989

Zu den bedrückendsten Seiten der Lagergeschichte gehörte der öffentliche Umgang mit den Toten des Lagers. Zu keiner Zeit erfolgte eine offizielle Benachrichtigung der Angehörigen. Statt dessen betrieben die zuständigen sowjetischen Instanzen ebenso wie später die DDR-Behörden gegenüber den Betroffenen Hinhaltetaktik und Desinformation.

Im Zusammenhang mit der Auflösung der Lager im Januar 1950 hatte das DDR-Innenministerium der Presse erklärt: „Auf Anfrage teilte Staatssekretär Warnke mit, dass die Angehörigen der in den Internierungslagern Verstorbenen Mitteilung erhalten werden. Gerhart Eisler wies ergänzend darauf hin, dass nur ein äußerst geringer Prozentsatz der Häftlinge gestorben ist. Im Gegensatz zu den Hunderttausenden Deutschen, die als Fremdenlegionäre in Vietnam und anderen Ländern ihr Leben lassen mussten, [...], seien die Totenlisten vorhanden. Anfragen von Angehörigen zu dieser Angelegenheit können, wie Staatssekretär Warnke erklärte, in einem Monat, wenn die Entlassungsaktion abgeschlossen ist, an das Ministerium des Innern gerichtet werden.“ Es erwies sich sehr bald, dass dieses Versprechen in keiner Form eingelöst wurde.

Lediglich die Aussagen entlassener Mitgefangener (die sich damit der Gefahr erneuter Repressionen aussetzten), die Bemühungen der in Westberlin tätigen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) und später des Suchdienstes des DRK[1] eröffneten den Angehörigen verstorbener Lagerinsassen eine gewisse Chance, Auskünfte über deren Schicksal zu erhalten. Lange Zeit wurden von der KgU erstellte Listen mit den Namen von Lagertoten durch Sprecher des „Rundfunks im amerikanischen Sektor“ (RIAS) verlesen.

Dennoch verblieben bis vor wenigen Jahren Sterbeort und Todesdatum zahlreicher Opfer im Ungewissen; manche Schicksale harren noch immer der Aufklärung.

Aber durch Beschweigen war das Problem nicht aus der Welt zu schaffen. Da die Schließung der Lager durch die DDR-Propaganda als Ausdruck großmütiger sowjetischer Humanität dargestellt worden war, liefen alle Verzögerungstaktiken letztlich nicht nur ins Leere, sondern richteten sich in wachsendem Maße gegen ihre Urheber. Immer wieder drängten Angehörige auf eindeutige Informationen.

Zahlreiche Menschen waren auch Jahre nach der Auflösung der Speziallager und trotz kaum verhohlener Drohungen seitens der Behörden nicht bereit, sich mit dem Verschwinden von Familienmitgliedern abzufinden. Das wurde von der SED-Führung durchaus wahrgenommen. So musste 1953 die „Benachrichtigungsfrage“ erneut aufgegriffen werden. Das geschah im Kontext einer sich zuspitzenden politischen Krise, der zahlreiche unpopuläre wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen der SED vorausgegangen waren. Im Vorfeld des 17. Juni 1953 unternahm die Parteispitze auf Weisung Moskaus den Versuch, durch eine Reihe von Zugeständnissen (bezeichnet als „Neuer Kurs“) der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung entgegenzuwirken. Zu den Problemen, denen die SED politische Brisanz beimaß, gehörte auch der ungeklärte Verbleib von Insassen der Speziallager.

Unter Berufung auf einen entsprechenden Politbürobeschluss vom 9. Juni 1953 schrieb Walter Ulbricht nach Moskau: „Es handelt sich darum, dass die Sowjetorgane über deutsche Bürger, die von Sowjetorganen seit 1945 verhaftet wurden, bisher an die Angehörigen keine Auskunft gaben. Darunter gibt es Fälle, wo die Verhafteten nicht mehr am Leben sind, und nach den deutschen Gesetzen können die Familienangehörigen ohne die Bescheinigung des Todes die familienrechtlichen Fragen nicht zum Abschluss bringen. Aus diesen Gründen bitten wir, dass die Sowjetorgane auf die Anfragen deutscher Bürger an die deutschen Behörden antworten und dass von diesen Mitteilung an die Angehörigen der Verhafteten gegeben werden kann.“[2]

Die zweifellos komplizierte familienrechtliche Seite stand jedoch nicht im Zentrum der Überlegungen der SED. Hier hatte man eine gewisse Lösung gefunden. Seit Ende 1951 war durch die Verordnung über die „Abkürzung der Verschollenheitsfristen“[3] den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt worden, fünf Jahre nach dem Ende jenes Kalenderjahres, in dem man die letzte Nachricht erhalten hatte, Personen für tot erklären zu lassen. Da die große Mehrheit der Verhaftungen 1945/1946 erfolgt war, trat die neue Regelung für die meisten Angehörigen sofort in Kraft.

Im Protokoll der erwähnten Politbürositzung von 1953 wurde die Dringlichkeit der Frage wahrheitsgemäßer damit begründet, „daß zahlreiche deutsche Bürger ständig Auskunft über das Schicksal ihrer von sowjetischen Besatzungsorganen verhafteten Angehörigen verlangen“. Es ist keine Antwort auf diesen Vorstoß der SED überliefert, der im Unterschied zu anderen Maßnahmen des „Neuen Kurses“ keinen Eingang in öffentliche Verlautbarungen gefunden hatte. Möglicherweise bewog der wenige Tage darauf ausbrechende Aufstand die SED (resp. die Moskauer Führung) endgültig, an diesem heiklen Thema nicht mehr zu rühren, um keine unkontrollierbaren Emotionen auszulösen. Unzweifelhaft ist dagegen, dass sie an der Praxis des Schweigens bis zu ihrem eigenen Ende festgehalten hat.

Seit 1957 erteilten die Rot-Kreuz-Gesellschaften der UdSSR auf Anfrage dem Deutschen Roten Kreuz Auskünfte. Allerdings liefen die entsprechenden Kontakte fast ausschließlich über Suchdienst-Einrichtungen der Bundesrepublik. Vielen Angehörigen, die in der DDR lebten, schien es wohl immer noch aussichtslos oder zu riskant zu sein, sich mit einem solchen Anliegen an die eigenen Behörden zu wenden. Über den Sterbeort erhielt das DRK in keinem Fall Mitteilung. Die Informationen aus Moskau reduzierten sich allenfalls auf die lakonische Mitteilung, dass eine bestimmte Person zu einem bestimmten Zeitpunkt „auf sowjetischen Territorium“ verstorben sei. Damit konnte auch Buchenwald gemeint sein, was freilich für die Empfänger dieser Auskunft keineswegs nahelag. Statt dessen glaubten sie oftmals, der gesuchte Angehörige hätte irgendwo in den Weiten Russlands sein Grab gefunden.

Dr. Bodo Ritscher