Anzahl der Toten
Im Rundbrief 6/7 veröffentlichte die Gedenkstätte Buchenwald 1993 erstmals das sowjetische Protokoll über „die Bewegung des Spezkontingents im gesamten Zeitraum der Lagerexistenz des Spezlagers Nr. 2“ vom 1. März 1950. In ihm wird - für die Zeit von August 1945 bis Februar 1950 - die Zahl der Verstorbenen auf 7.113 beziffert.[1]. Diese Angabe ist bis heute die einzige offizielle Totenzahl und als solche in zahlreiche Veröffentlichungen eingeflossen.
Gegen die genannte Zahl erhoben ehemalige Lagerinsassen nicht selten Einspruch, der zumeist von dem Gefühl gespeist war, angesichts der selbst erlebten schrecklichen Verhältnisse im Lager müsse die Totenzahl einfach höher gewesen sein. Tatsächlich existierte kein Grund, der amtlichen Zahl blind zu trauen. Die Annahme lag nahe, die Bedingungen im Lager sollten beschönigt, der Umfang des Verbrechens verkleinert werden.
In den vergangenen zehn Jahren wurde das überlieferte, zumeist sperrige russische Aktenmaterial intensiv bearbeitet. Veröffentlichungen dokumentieren den Verlauf der Sterblichkeit zwischen 1945 und 1950[2]. In der ständigen Ausstellung zur Geschichte des Speziallagers Buchenwald können seit 1997 die durch die Gedenkstätte Buchenwald erfassten Namen der Toten eingesehen werden. Alle vorhandenen Unterlagen sind zugänglich und insofern überprüfbar gemacht worden. Historiker und Öffentlichkeit sind nicht mehr auf Mutmaßungen oder Schätzungen angewiesen, wenngleich keineswegs alle Fragen geklärt werden konnten.
Zur Ermittlung der Lagersterblichkeit stehen drei Quellengruppen zur Verfügung:
- die halbmonatlichen Stärkemeldungen der „Registriergruppe“ (d.h. der Lagerregistratur), auf denen die erwähnte Erfassung von 7.113 Toten basiert.
- die halbmonatlichen, später monatlichen Totenmeldungen des Leiters der „Sanitätsgruppe“ des Lagers, d.h. des sowjetischen Lagerarztes.
- die Erfassung der Namen der Verstorbenen auf der Grundlage aller vorhandenen Unterlagen (vor allem der Totenlisten und der Angaben im sogenannten Lagerjournal).
Die Angaben der „Registriergruppe“ und der „Sanitätsgruppe“ weisen in der zumeist halbmonatlichen Berichterstattung an die übergeordnete „Abteilung Speziallager“ in Berlin bestimmte Abweichungen auf. Wahrscheinlich waren die Stichtage für die Berichterstattung nicht ganz identisch. Die Zahlendifferenzen dürften weiterhin mit einer unterschiedlich schnellen Erfassung der Toten zu tun haben. Darauf deuten die nicht seltenen Fälle hin, dass Verstorbene in den Akten unter verschiedenen Sterbedaten registriert sind, die jedoch zeitlich zumeist dicht beieinander liegen. Bezogen auf die Jahresbilanzen oder die Gesamtzahl gleichen sich die Abweichungen fast völlig aus. Die „Sanitätsgruppe“ erfasste insgesamt 7.110 Tote; drei Tote weniger als die Lagerregistratur.
Das vorliegende Totenbuch enthält Angaben über etwa 7.000 Verstorbene. Angesichts der komplizierten Probleme bei der Zuordnung von Namen und von Lücken in der namentlichen Überlieferung insbesondere der Toten des Jahres 1945, verband sich mit der Arbeit am Totenbuch jedoch zu keiner Zeit die Intention, die vorliegenden Totenstatistiken exakt verifizieren zu können.
Die Angabe „7.113 Tote“ kann somit definitive Präzision nicht beanspruchen. Es gibt überdies deutliche Anzeichen dafür, dass die „Registriergruppe“ des Lagers 1949/1950 bestimmte Differenzen „bereinigt“ hat. Das geschah offensichtlich zur Vertuschung von Mängeln in der eigenen Arbeit. So gibt es eine, wenn auch nicht große Anzahl von Lagerinsassen, deren Einlieferung in das Lager belegbar ist, über deren Verbleib jedoch keine Unterlagen zu finden sind. Ebenso kommt der umgekehrte Fall vor.
Für Mutmaßungen, dass Totenzahlen aus politischen Motiven in Größenordnungen gefälscht worden sind, gibt es keine stichhaltigen Belege. Gegen eine solche Fälschung spricht zunächst der Umstand, dass es sich bei allen jetzt zugänglichen Akten um streng geheime Unterlagen für den internen Gebrauch gehandelt hat. Die NKWD/MWD-Behörden der verschiedenen Ebenen mussten an einem prinzipiell korrekten Überblick über die Personenbewegungen in den Lagern interessiert sein - nicht zuletzt deshalb, um bestimmte Lagerinsassen „bei Bedarf“ auffinden zu können. Vor allem lassen sich Zahlen im Rahmen einer Gesamtbilanz nicht willkürlich ändern, ohne dass unauflösliche Widersprüche entstehen. Hätte man zum Beispiel Tausende Tote als Entlassene registriert, wäre diese Manipulation zweifellos sichtbar geworden. Die grundsätzliche Zuverlässigkeit der Lagerregistratur hat sich bei zahlreichen Einzelauskünften und Fallstudien erwiesen.
Da die „Zu- und Abgänge“ des Speziallagers Buchenwald fast lückenlos dokumentiert sind und sich an zahlreichen Knotenpunkten mit Zeitzeugenaussagen decken, ist es möglich, die Dimension der Sterblichkeit einzugrenzen. Es wird gelingen, weitere Opfer des Speziallagers Buchenwald namhaft zu machen. Das können Dutzende, vielleicht Hunderte von Namen sein. Tausende sind es mit Sicherheit nicht.
Die Mutmaßung, die amtliche Opferzahl müsse eine nach unten korrigierte sein, stützt sich zumeist auf vor 1990 veröffentlichte Zahlenangaben. Soweit es sich um seriöse Arbeiten handelt, reichen diese Schätzungen bis zu 13.200 Toten. Die verbreitete Auffassung, die Differenz zu den russischen Angaben sei unerklärlich hoch, ist jedoch falsch.
Zunächst befindet sich die Angabe der Lagerregistratur, dass in Buchenwald 7.113 Insassen verstorben seien, innerhalb des Spektrums der vorliegenden Schätzungen. Diese setzen bei 6.000 Toten ein[3]. In erster Linie ist aber auf die grundsätzliche Schwierigkeit zu verweisen, individuelle Einblicke und Erfahrungen zu einer Gesamtbilanz „hochzurechnen“.
Vergleicht man die beschriebene Spannweite mit Zahlendiskussionen zu anderen großen Lagern oder Lagerkomplexen des 20. Jahrhunderts, ist leicht festzustellen, dass in vielen Fällen weitaus größere Differenzen auftreten. Sie konnten zum Teil bis heute nicht befriedigend geklärt werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die russischen Zahlen vielmehr als grundsätzliche Bestätigung der zeitgenössischen Wahrnehmungen interpretieren.
Wer das Ausmaß des Sterbens im sowjetischen Speziallager Buchenwald und seine Wirkung auf die Lagerinsassen verstehen will - soweit dies Außenstehenden überhaupt möglich ist - darf seinen Blick nicht auf die Gesamtzahl fixieren. Die Genese dieser Zahl und ihr Aussagewert innerhalb des Gesamtgefüges der Sterblichkeit in den Lagern sind von großer Bedeutung.
Während in Buchenwald jeder vierte Lagerinsasse verstorben ist, weist die Statistik aller zehn sowjetischen Speziallager in der SBZ/DDR etwa jeden dritten Gefangenen als Todesopfer aus. Das könnte den Eindruck erzeugen, in Buchenwald seien die Verhältnisse nicht so dramatisch gewesen wie anderswo. Eine genauere Analyse der Sterblichkeit in Buchenwald widerlegt diese Mutmaßung.
Die Sterblichkeit nahm in den Jahren 1945-1950 einen sehr unterschiedlichen Verlauf. Sie wuchs zunächst stark an und erreichte ihren Höhepunkt 1947; danach sank sie wieder ab und blieb unter den extremen Werten der Jahre 1946/1947. Deshalb war die Sterberate in der Regel in jenen Lagern am höchsten, die vor 1948 aufgelöst worden sind. Dagegen wird die besondere Schreckenszeit der frühen Jahre insbesondere für Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen, die bis 1950 existierten, statistisch eingeebnet. Ein treffenderes Bild vermittelt insofern die prozentuale Sterblichkeit in den einzelnen Jahren. Sie lag in Buchenwald 1945 bei 5,08 Prozent, 1946 bei 16,23 Prozent, 1947 bei 24,33 Prozent, 1948 bei 8,67 Prozent, 1949 bei 5,53 Prozent und 1950 bei 0,72 Prozent. Allein für den Februar 1947 wies der Monatsbericht der Sanitätsabteilung der „Abteilung Speziallager“ in Berlin 800 Tote aus. Die statistische Überlebenschance eines männlichen Lagerinsassen, der von Anbeginn im Lager war und hier bis zum Schluss bleiben musste, betrug wenig mehr als 50 Prozent. Bei dieser Angabe wurde berücksichtigt, dass auch nach 1950 ehemalige Insassen des Speziallagers Buchenwald in der Haft starben - sowohl in DDR-Strafanstalten als auch in sowjetischen Lagern. Nur wenige der insgesamt etwa 1.000 in Buchenwald inhaftierten Frauen starben, was mit besseren hygienischen Bedingungen, größeren Beschäftigungsmöglichkeiten und einem geringeren Energiebedarf zusammenhing.
Dr. Bodo Ritscher