Verwischung der Spuren
Obwohl das Krematorium technisch intakt war, wurde es zu keiner Zeit genutzt. Das mag im Falle Buchenwalds auch politische Ursachen gehabt haben, da das Krematorium als Todesstätte des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann eine Art historische Weihe erfahren hatte. Entscheidend dürfte jedoch der Umstand gewesen sein, dass Feuerbestattungen in der Sowjetunion kaum Tradition besaßen. Für keines der Speziallager in der SBZ finden sich Hinweise, dass Verstorbene verbrannt worden sind.
Die Toten wurden in unmittelbarer Lagernähe verscharrt. Auf ähnliche Weise verfuhr die sowjetische Besatzungsmacht in anderen Lagern. Lediglich bei innerstädtischen Standorten mussten die Leichen an entlegene Plätze verbracht werden. Einige der „auswärtigen“ Massengräber sind bis heute nicht aufgefunden worden. In den russischen Akten konnten bislang keine dokumentierenden Unterlagen über die Areale ausfindig gemacht werden, in denen die Opfer der Speziallager begraben sind. Damit ist es in aller Regel unmöglich, einzelne Tote mit konkreten Gräbern in Verbindung zu bringen.
Trotz erheblicher Anstrengungen der verantwortlichen NKWD/MWD-Offiziere, die Spuren des Massensterbens zu verwischen, gelang es in Buchenwald 1990 relativ rasch, die Standorte der Massengräber ausfindig zu machen und zu kennzeichnen. Dazu trugen mehrere Umstände bei.
Zum einen waren bis 1989 in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Lagers mehrfach menschliche Gebeine aufgefunden worden, insbesondere beim Bau einer Wasserleitung. Zwar beseitigten die DDR-Behörden diese Spuren rasch, aber im Gedächtnis der beteiligten Menschen blieb die Erinnerung an solche Funde gespeichert.
Ebenso wenig war zu verhindern gewesen, dass in den Jahren 1945-1950 Einwohner der umliegenden Ortschaften sahen oder ahnten, was sich in Lagernähe abspielte. Auch diese Erinnerungen wurden nunmehr offengelegt.
Vor allem aber lebte noch eine beträchtliche Anzahl früherer Lagerinsassen, die ihr Wissen zur Verfügung stellten. Es wurde bekannt, dass entlassene Gefangene bereits Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre in der Bundesrepublik bzw. in Westberlin Aufzeichnungen über das Sterben in Buchenwald angefertigt hatten. Darunter befanden sich Berichte von Personen, die zeitweilig im sogenannten B-Kommando eingesetzt gewesen waren, also bei der Bestattung der Leichen in irgendeiner Form mitgewirkt hatten. Ehemalige Angehörige dieses Kommandos hinterließen mehrere Skizzen über die Lage der Massengräber.
Obwohl die Aussagen natürlich im Detail voneinander abwichen, verdichteten sich die Angaben über drei Grablagen: Die ersten Gräber wurden westlich des Häftlingslagers, gegenüber dem „Häftlingsrevier“ angelegt. Es handelte sich um ca. 20 Einzelgräber[1]. Sie mussten 1946 durch das Beerdigungskommando unkenntlich gemacht werden. Möglicherweise wurden die Toten umgebettet. Bis heute konnte diese Grabanlage nicht genau lokalisiert werden. Ein weiteres Gräberfeld entstand nordöstlich des Lagers auf einer kleinen Erhöhung, in der Nähe des Bahnhofes von Buchenwald. Das mit Abstand größte Gräberfeld, bis zur Auflösung des Lagers im Frühjahr 1950 genutzt, befindet sich nördlich des Lagers und schließt sich unmittelbar an den ehemaligen Postenweg an.
Die unmittelbare Lagernähe der Gräberfelder war aus der Sicht der Lagerbetreiber zunächst ein Vorteil. Zwar beobachteten dadurch zahlreiche Insassen, wo die verstorbenen Mitgefangenen ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, aber zugleich verhinderte das ständig bewachte Lager, dass sich „Unbefugte“ im Bereich der Gräber aufhalten konnten. Das schien, wenn man fragmentarisch überlieferten Einlassungen aus anderen Speziallagern glauben darf, die größte Sorge des NKWD/MWD zu sein. Im Februar 1946 verlangte eine im Speziallager Torgau[2] eingesetzte Kontrollgruppe in Änderung der bisherigen Praxis: „Das Begraben von Leichen auf einem deutschen Friedhof ist einzustellen. Die Grabstellen der Leichen von Gefangenen sind an einem besonderen Ort zu verbergen [...]. Das Begraben von Leichen wird in der Nacht ohne irgendwelche beschrifteten Schildchen und Erkennungszeichen durchgeführt.“[3]
Die Nachteile dieses Verfahrens traten zutage, wenn ein Lager aufgegeben wurde. Im April 1949 schlug der Leiter der „Abteilung Speziallager“ in Bezug auf das ehemalige Lager Mühlberg vor: „Da sich neben der Lagerzone Plätze zur Beerdigung verstorbener Gefangener befinden, halte ich es für erforderlich, im Lager unbedingt irgendeine Truppenwirtschaft unterzubringen und das umliegende Gelände für die Nebenwirtschaft zu nutzen.“[4] Es steht zu vermuten, dass die über die Schließung des Speziallagers Buchenwald hinaus bis Mitte der 1950er Jahre andauernde Präsenz von sowjetischen Truppen im ehemaligen Lagerbereich denselben Grund hatte.
Zur Tarnung der Grablagen gehörten nicht nur die geschilderten Maßnahmen. Zahlreiche Zeitzeugenberichte beschreiben, wie die Gräber durch das Anpflanzen von Bäumen, Sträuchern und Gräsern unkenntlich gemacht werden sollten. Tatsächlich befand sich 1990 über den Massengräbern auf dem Nordhang des Ettersberges ein nahezu undurchdringliches Baum- und Strauchdickicht.
Zu den Versuchen, Informationen über das Massensterben zu unterdrücken, gehört die spezielle Behandlung, die Angehörige der Beerdigungskommandos erfuhren. Sie blieben zumeist von Entlassungen ausgenommen und wurden spätestens seit 1948 besonders registriert. Eine Aufstellung vom Juli 1949 aus dem Lager Buchenwald enthält 94 Namen. Die Annahme, dass es sich um das Buchenwalder Beerdigungskommando handele, trifft jedoch so nicht zu.[5] Eine solche Stärke wäre für Buchenwald völlig überdimensioniert gewesen. Die meisten erfassten Personen waren zuvor in anderen Lagern als Totengräber eingesetzt gewesen; unter ihnen befand sich das nahezu vollständige Mühlberger Kommando.
1950 wurde der größere Teil der auf der Liste vermerkten Personen entlassen. Die Angehörigen des Buchenwalder Kommandos, deren „Dienst“ über das Jahr 1948 hinausgegangen war, blieben auch diesmal ausgenommen. Im Februar 1950 transportierte man insgesamt 19 Angehörige des „Sanitäts-Sonderkommandos“ und des „Lazarett-Sonderkommandos“, darunter mindestens einen Arzt, nach Weimar. Dort wurden ihnen „Urteile“ aus Moskau verkündet. Anschließend verbrachte man sie in „Arbeits-Besserungs-Lager“ der UdSSR (also in den GULag).
Was das für die von solchen Praktiken unmittelbar Betroffenen bedeutete, lässt sich am Schicksal von Erich Hebestreit verdeutlichen.[6] Hebestreit, von Beruf Maschinist in einem Braunkohlentagebau, trat 1937 in die NSDAP ein. 1944 übertrug man ihm das Amt eines NSDAP-Blockleiters. Da gegen ihn zu keiner Zeit darüber hinausreichende Anschuldigungen erhoben werden konnten, war ihm lediglich Mitläufertum anzulasten. Spätestens seit 1946 umwarb die SED solche „nominellen Pg´s“ (soweit sie 1945 der Verhaftung entgangen waren). Die verhafteten NS-Mitläufer kamen (wenn sie nicht im Lager verstorben waren) größtenteils 1948 frei.
Erich Hebestreit wurde 1948 nicht zur Entlassung aufgerufen. Auch 1950 endete seine Haft nicht. Die Listen, die 1949 zur Entscheidung über den weiteren Verbleib der Lagerinsassen angelegt worden waren, enthielten zu seiner Person (neben dem Verweis auf die frühere Blockleiter-Funktion) den folgenschweren Vermerk: „Seit 1947 arbeitet er im Sanitäts-Sonderkommando.“ Wie die anderen Angehörigen des Buchenwalder „B-Kommandos“ wurde Erich Hebestreit im Zusammenhang mit der Auflösung des Lagers in das sowjetische Militärgefängnis nach Weimar überstellt. Dort teilte man ihm im August 1950 das in Moskau ergangene „Fernurteil“ mit. Die für den Haftbeschluss zuständige „Sonderkommission beim Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR“ hielt es nicht einmal für erforderlich, wenigstens zur Wahrung des Scheins zusätzliche Anschuldigungen zu erheben. Er sei „für [seine] Zugehörigkeit zur faschistischen Partei und [seine] aktive faschistische Tätigkeit in einem Arbeits- und Besserungslager zu verwahren für den Zeitraum von – fünfundzwanzig Jahren, vom 23. Februar 1950 an gerechnet.“[7] Auf die Haftjahre 1945 bis 1950 nahm die Akte mit keinem Wort Bezug. Nach der Verkündung des Haftbeschlusses gelangte Erich Hebestreit nach Workuta, wo er unter schwierigsten Bedingungen Zwangsarbeit zu leisten hatte. Im Spätfrühjahr 1953 wurde er zusammen mit anderen Gefährten in ein Lager in die Nähe von Königsberg (Kaliningrad) verbracht. Hier durfte er erstmals seit 1945 seinen Angehörigen schreiben. Doch die geplante Entlassung verzögerte sich infolge des Aufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR, so dass er erst am 29.12.1953 in seiner Heimatstadt eintraf.
Andererseits trafen die Verantwortlichen des MWD personelle Entscheidungen, die zur strikten Verschleierungsorder nicht so recht passten. Entweder wurde erst verspätet mit der Registrierung der Angehörigen des Beerdigungskommandos begonnen oder sie erfolgte nur lückenhaft. Jedenfalls kam es sowohl 1948 als auch 1950 zur Entlassung von zeitweiligen Angehörigen des Kommandos, etwa des Thüringers Ernst-Emil Klotz. Möglicherweise nahmen die zuständigen sowjetischen Offiziere aber auch an, eine Art Quarantänephase (d.h. ein bestimmter zeitlicher Abstand zwischen der Beschäftigung im B-Kommando und der Entlassung) wäre ausreichend, um dem Wissen der früher dort Beschäftigten die Brisanz zu nehmen.
Dr. Bodo Ritscher