Ursachen des Sterbens
Eine zuverlässige Übersicht über die spezifischen Todesursachen existiert nicht; sie ist auch künftig nicht zu gewinnen. Der Aussagewert der fragmentarischen Angaben in den Berichten der „Sanitätsgruppe“ und in den Totenlisten ist äußerst beschränkt. Zum einen verschleiern die benannten Todesursachen vielfach die eigentlichen. So starben zahlreiche Gefangene an Tbc-Erkrankungen, aber die Ausbreitung der Tuberkulose war eine unmittelbare Folge der Lebensbedingungen im Lager, insbesondere der völlig unzureichenden Ernährung. Zum anderen wurden Statistiken nachweislich gefälscht. Im Bericht einer Inspektionskommission vom Februar 1948 heißt es: „1947 sind im Lager 3.592 Personen, d.h. durchschnittlich 2,04 Prozent im Monat, gestorben. Nach den Angaben des Lagers sind 498 Personen an Lungentuberkulose, d.h. 13,9 Prozent, an Dystrophie 321, d.h. 8,9 Prozent, an Herz- und Gefäßerkrankungen 1.187 Personen, d.h. 33 Prozent gestorben. [...] Wie wir festgestellt haben, sind die meisten als Herz- und Gefäßkranke registrierten Toten tatsächlich an Tuberkulose und Dystrophie1 gestorben.“[1] Der Inspektionsbericht deutet den Zusammenhang zwischen der drastischen Kürzung der Nahrungszuteilung im November 1946 und dem steilen Anstieg der Sterblichkeit zwar an, aber nicht, ohne zugleich einen Sündenbock anzubieten: „Die Hauptursache der auffallend großen Sterblichkeit in der ersten Jahreshälfte 1947 hing mit den schwierigen Lebensbedingungen des Winters 1946/1947 zusammen (damaliger Leiter des Lagers - Hauptmann Matuskow).“[2]
Der Versuch, das vorgebliche Versagen eines Einzelnen als wesentliche Ursache der Sterblichkeit hinzustellen, ist entlarvend. Er lässt sich kaum anders als mit der Angst der Mitglieder der Inspektionskommission erklären, bei Benennung der wirklichen, systembedingten Ursachen Schwierigkeiten mit den eigenen Vorgesetzten zu bekommen. In Wahrheit spiegelte die Situation in Buchenwald exakt die Gesamtverhältnisse in den sowjetischen Speziallagern wider.
Die hohen Sterblichkeitsziffern wurden nicht durch das Fehlverhalten oder die Unfähigkeit der Führung in einzelnen Lagern verursacht; das kam oftmals verschärfend hinzu. Die „Abteilung Speziallager“ in Berlin und das Moskauer Innenministerium wussten über den Anstieg der Totenzahlen und seine in den katastrophalen Lebensverhältnissen liegenden Ursachen Bescheid.
Marschall Wassili D. Sokolowski, der Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, und Generaloberst Iwan A. Serow, Sicherheitschef der SBZ und als solcher direkt für die Speziallager verantwortlich, schrieben im Dezember 1946 einen Brief an Stalin und Berija. In ihm schlugen sie unter Bezug auf die soeben beschlossene Kontrollrats-Direktive Nr. 38 die Entlassung von etwa 35.000 Lagerinsassen vor, gegen die kein „kompromittierendes Material“ vorlag. Es wurde ausdrücklich darauf verwiesen, dass dieser Personenkreis von den anderen alliierten Mächten nicht inhaftiert worden sei[3]. Unabhängig davon, ob der Vorschlag (auch) als Entlastung der Lager angesichts einer extrem zugespitzten Versorgungssituation gedacht war, wäre seine Umsetzung ein Leben rettender Weg gewesen - immerhin hätte sich die Zahl der Gefangenen fast halbiert. Doch Moskau ließ sich nicht darauf ein. Als 1947 die Lebensmittelrationen wieder etwas angehoben wurden, kam das für viele Menschen zu spät.
Es gab in Buchenwald auch Fälle gewaltsamen Todes, die zumeist relativ gut dokumentiert sind. Während Tötungen bei tatsächlichen oder vermeintlichen Fluchtversuchen von der Lagerführung ausdrücklich gebilligt wurden, stufte selbst der Leiter des Lagers bei anderen Vorkommnissen den Schusswaffengebrauch als unangemessen ein. Das betraf z.B. die Erschießung einer Frau durch einen Turmposten. Sie hatte das Verbot ignoriert (wie zuvor andere auch), sich aus dem Fenster des sogenannten Magazins zu lehnen. Ein anderer Lagerinsasse wurde von einer verirrten Kugel getötet. In der Opferbilanz spielt gewaltsamer Tod jedoch eine Ausnahmerolle.
Zu Suiziden kam es nur vereinzelt. Konkret nachweisbar sind derzeit lediglich zwei Fälle. Auch in anderen Speziallagern scheinen Selbstmorde von peripherer Bedeutung gewesen zu sein.
Angesichts der Totenzahlen wurde in einer Reihe von Veröffentlichungen gefolgert, dass es sich bei den sowjetischen Speziallagern um Vernichtungslager gehandelt habe. Auch in zeitgenössischen (westdeutschen) Presseberichten finden sich solche Interpretationen. So titelte eine Zeitung „Tbc ersetzt Zyklon B“[4]. Es ist jedoch zu unterscheiden zwischen dem Faktum des Massensterbens, der Wahrnehmung einer individuellen und kollektiven Katastrophensituation durch Gefangene und der Frage, ob dieses Sterben durch gezielte, die Lagerbelegung als Ganzes betreffende Tötungsmaßnahmen herbeigeführt oder aber im Rahmen bestimmter Ziele billigend in Kauf genommen wurde. Darauf, dass die Verantwortlichen in Moskau von dem Sterben wussten und es hinnahmen, wurde verwiesen. Damit sind sie für den Tod der meisten Verstorbenen unmittelbar verantwortlich. Eine konkrete Vernichtungsvorbereitung und -planung lässt sich dagegen auch im Lichte neuerer Forschung nicht belegen. Die Kürzung der Rationen Ende 1946 greift als Beweis zu kurz, da sie im Kontext einer schweren Versorgungskrise in der UdSSR bzw. in der SBZ erfolgte und die Rationen zudem auf dem Papier den niedrigsten Vergabenormen an die Bevölkerung der SBZ entsprachen.
Von dem Massensterben waren Lagerinsassen jeden Alters betroffen, in besonderem Maße jene, die das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatten. Sie stellten 1947 annähernd zwei Drittel der Toten. Ein besonders tragisches Kapitel betrifft jedoch die verstorbenen Jugendlichen. Ihre Zahl ist größer, als lange Zeit angenommen wurde. Die Totenlisten des Lagers weisen bisher 126 Opfer der Jahrgänge 1926-1932 aus.
Dr. Bodo Ritscher